ZUR SITUATION DES GENRES OPERETTE

Mit nichts tut sich das deutsche Geistesleben so schwer wie mit dem angeblich so Leichten. Die Liebe zur Operette, ihr Genuß, wird von mutigen Dichtern und Denkern jedoch eingestanden.

Karl Kraus formulierte kämpferisch: Ich kann mir denken, daß ein junger Mensch von den Werken Offenbachs, die er in einem Sommertheater zu sehen bekommt, entscheidendere Eindrücke empfängt, als von jenen Klassikern, zu deren verständnisloser Empfängnis ihn die Pädagogik antreibt.

Und Theodor W. Adorno dialektisiert in seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“ unter dem Stichwort „Operette“ folgendermaßen:

Sollte der Weltgeist in die leichte Musik sich verirrt haben, so hätte er an ihr einige Gerechtigkeit verübt.

Ihre Vitalität hat sich die über hundert Jahre alte Operettenform bis heute erhalten. Auch und gerade wegen der „Unwahrscheinlichkeit“ ihrer Handlung, des Rauschbewußtseins, des mehr oder weniger sinnvollen Unsinns. Mit einem Rhythmus, der das bewegungslose Rezipieren des Werks, also das Stillsitzen, zuweilen fast unerträglich macht. Und einer Erotik, die mit ihrem Esprit, und ihrer Eleganz, zeitlos anziehend wirkt. Man kann ohne Zweifel davon ausgehen, daß die Qualität und der Einfallsreichtum dieser angeblich so leichten musikalischen Kunstgattung inzwischen der klassischen Kultur angehört, die es unbedingt zu erhalten gilt.

Ungeachtet ihrer Inhalte: Die Operette hat sich formal in die Ecke spielen lassen. Sie wurde nachlässig behandelt. Die unterhaltende Form, der Melodienreichtum und die damit verbundene Popularität wurden in abwertender Weise benutzt, um sich dünkelhaft darüber zu erheben. Die Pflege des Genres wurde zunehmend vernachlässigt: Die Förderung der operettenspezifischen Fächer wurde bis heute vollkommen aufgelöst; Operettentheater wurden geschlossen oder dem kommerziellen Musical zugeführt. Fernseh- und Rundfunkanstalten lösten mehr und mehr ihre Unterhaltungsorchester auf und ließen dieses Repertoire zunehmend aus den Programmen verschwinden. Fazit: Die öffentlich-rechtlichen und sonstigen kulturellen Institutionen (Musik- und Theaterschulen, Opernhäuser), die zu eben auch dem Erhalt und zur Weiterentwicklung dieser Kultursparte staatlich gefördert werden, haben damit ihren mit dieser Förderung verbundenen Auftrag in dramatischer Weise vernachlässigt.

Doch noch ist die Operette lebendig genug, sich nicht auf Dauer die Stimmung verderben zu lassen. Und genau das ist der Ansatz für die hier mangels vorhandener Operetten-Ensembles und –Häuser zur Diskussion stehende Operetten-Stiftung ins Leben zu rufen; zur erhaltenden Pflege des Genres gehört die Konzentration und Besinnung auf die Qualitäten dieser Kunstform. Vorrangig wird dem orchestralen Klang und dem Gesang Gehör gewidmet. Der Interpretationsstil der Operette und der Charakter der Rollen stellen spezifische Anforderungen an die Sänger-Darsteller.

Bei den Uraufführungen der Werke waren die großen Stimmen der Oper sich alles andere als zu schade, der neuen Kunstform zu Ruhm zu verhelfen: Gitta Alpar, Erna Berger, Maria Cebotari, Fritzi Massary, Helge Rosvaenge, Richard Tauber, Marcel Wittrisch, Jan Kiepura, Martha Eggerth und andere wohlklingende Namen.

Die Operette ist nach wie vor äußerst populär, hat ein breites Publikum. Daß sie grundsätzlich, unter der Voraussetzung einer musikalisch qualitativ anspruchsvollen und von der jeweiligen Handlung her intelligent und geschmackvoll geführten Präsentation, auch ein gutes, ein junges und kritisches Publikum begeistern kann,  ist immer wieder bewiesen worden.
Obwohl das Genre vor allem wegen der Musik bis heute seine Popularität trotz vielfach vernichtender Aufführungen nicht verloren hat, ist die Musik untrennbar von den vielseitigen künstlerischen Eindrücken und Qualitäten, die diese Theaterform zu bieten hat: Gesang-Tanz-Sprache-Humor-Witz-Gefühl = Fachliches Handwerk auf mehreren künstlerischen Ebenen.

M. Kollo – Stiftung Operette